German Poetry

Intermediate Level

Sie war ein Blümlein hübsch und fein
von Wilhelm Busch

Sie war ein Blümlein hübsch und fein,
hell aufgeblüht im Sonnenschein.
Er war ein junger Schmetterling,
der selig an der Blume hing.

Oft kam ein Bienlein mit Gebrumm
und nascht und säuselt da herum.
Oft kroch ein Käfer kribbelkrab
am hübschen Blümlein auf und ab.

Ach Gott, wie das dem Schmetterling
so schmerzlich durch die Seele ging!
Doch was am meisten ihn entsetzt,
das Allerschlimmste kam zuletzt.
Ein alter Esel fraß die ganze
von ihm so heiß geliebte Pflanze.

(14 Zeilen)


Gefunden
von Johann Wolfgang von Goethe

Ich ging im Walde
so für mich hin,
und nichts zu suchen,
das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
ein Blümchen steh’n,
wie Sterne leuchtend,
wie Äuglein schön.

Ich wollt’s es brechen,
da sagt’ es fein:
“Soll ich zum Welken
gebrochen sein?”

Ich grub’s mit all
den Würzlein aus,
zum Garten trug ich’s
am hübschen Haus,

Und pflanzt’ es wieder
am stillen Ort;
nun zweigt es immer
und blüht so fort.

(20 Zeilen)

 Im Nebel
von Hermann Hesse

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein;
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.

Voll von Freuden war mir die Welt,
Als noch mein Leben Licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkle kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsam sein.
Kein Mensch kennt den anderen,
Jeder ist allein.

(16 Zeilen)


Spielzeug
von Wolf Biermann

Mit der Eisenbahn
lernen wir
zur Oma fahrn.
Das macht Spaß.
Mit der Puppe
essen wir
gerne unsere Suppe.
Das macht Spaß.
Mit dem Ball
schmeißen wir
Peters Bären um,
der ist dumm.
Mit den Muschikatzen
lernt der Paul
die Anne kratzen.
Das macht Spaß.
Mit dem Panzer lernen wir:
Wie man
Eisenbahn,
Puppe, Suppe,
Ball und Bär,
Muschikatzen
und noch mehr,
Anne, Papa,
Haus und Maus
einfach kaputt macht.

(26 Zeilen)


Ich liebe Frauen

von anonym

Ich liebe Frauen, die vor tausend Jahren
Geliebt von Dichtern und besungen waren.
Ich liebe Städte, deren leere Mauern
Königsgeschlechter alter Zeit betrauern.
Ich liebe Städte, die erstehen werden,
Wenn niemand mehr von heute lebt auf Erden.
Ich liebe Frauen—schlanke, wunderbare,
Die ungeboren ruhn im Schoss der Jahre.
Sie werden einst mit ihrer sternebleichen
Schönheit der Schönheit meiner Träume gleichen.

(10 Zeilen)



Advanced Level

Mondnacht
von Joseph von Eichendorf

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

(12 Zeilen)

 Du schlank
von Stefan George

Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht
Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht

Begleitest mich auf sonnigen matten
Umschauerst mich im abendrauch
Erleuchtest meinen weg im schatten
Du kühler wind du heisser hauch

Du bist mein wunsch und mein gedanke
Ich atme dich mit jeder luft
Ich schlürfe dich mit jedem tranke
Ich küsse dich mit jedem duft

Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht

Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht

(16 Zeilen)

 Der Panther
von Rainer Maria Rilke

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd’ geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –

und hört im Herzen auf zu sein.

(12 Zeilen)

 Was ich von meinen Tanten zum Geburtstag bekam
von Vera Ferra-Mikura

Von Tante Wilhelmine
eine Mandarine,
von Tante Grete
eine Trompete,
von Tante Adelheid
ein Sommerkleid,
von Tante Beate
eine Tomate,
von Tante Liane
eine Banane,
von Tante Isabell
ein weißes Bärenfell,
von Tante Veronika
eine Harmonika,
von Tante Emilie
eine Lilie,
von Tante Kunigunde zwei lustige Hunde,
zuletzt von Tante Erika
eine Karte aus Amerika.
Tante Walpurga, auf die sich nichts reimt,
hat mein zerbrochenes Holzpferd geleimt.

(22 Zeilen)

Wieso, Warum?
von Erich Kästner

Warum sind tausend Kilo eine Tonne?
Warum ist dreimal Drei nicht Sieben?
Warum dreht sich die Erde um die Sonne?
Warum heißt Erna Erna statt Yvonne?
Und warum hat das Luder nicht geschrieben?

Warum ist Professoren alles klar?
Warum ist schwarzer Schlips zum Frack verboten?
Warum erfährt man nie, wie alles war?
Warum bleibt Gott grundsätzlieh unsichtbar?
Und warum reißen alte Herren Zoten?

Warum darf man sein Geld nicht selber machen?
Warum bringt man sich nicht zuweilen um?
Warum trägt man im Winter Wintersachen?
Warum darf man, wenn jemand stirbt nicht lachen?
Und warum fragt der Mensch bei jedem Quark: warum?

(15 Zeilen)


Die Lorelei
von Heinrich Heine

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh’.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei getan.

(24 Zeilen)